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Buch „Militärspionage“: 1983 stand Welt kurz vor Atomkrieg

Start einer atomwaffenfähigen Pershin-Rakete - 1983 war der Kreml angeblich von einem bevorstehenden Angriff der NATO überzeugt. Abb.: US Army

Start einer atomwaffenfähigen Pershin-Rakete - 1983 war der Kreml angeblich von einem bevorstehenden Angriff der NATO überzeugt. Abb.: Wikipedia/ US Army

Haben ostdeutsche Geheimagenten geholfen, Anfang der 1980er Jahre einen Atomkrieg in Europa zu verhindern? Ja, sagt Rainer Rupp alias IM „Topas“, der 13 Jahre lang für die Stasi im NATO-Hauptquartier in Brüssel spioniert hat. Durch Ronald Reagans Gerede vom Sternenkrieg und gewinnbaren Atomschlägen gegen Moskau habe sich die sowjetische Führung in eine derartige Angsthysterie hineingesteigert, dass der Kreml überzeugt war, der neue Scharfmacher im Weißen Haus wolle das NATO-Manöver „Able Archer“ 1983 nutzen, um aus der Übung heraus einen Krieg gegen die Russen zu beginnen, berichtet Rupp im neuen Buch „Militärspionage“, das er gemeinsam mit Offizieren der Stasi-Hauptverwaltung Aufklärung (HV A) nun veröffentlicht hat.

„Die sowjetische Führung war offensichtlich von einem unmittelbar bevorstehenden Angriff überzeugt“, heißt es da. „Sie hatte ihre eigenen strategischen Atomstreitkräfte in den Alarmzustand versetzt und zudem ihre Luftstreitkräfte in der DDR und in Polen alarmiert. Das kleinste Versehen, und die Katastrophe wäre nicht mehr aufzuhalten gewesen.“

Visualisierung der SDI-Idee, Raketen durch Laser abzufangen - das Konzept funktioniert bis heute nicht. Abb.: US Gov.

Visualisierung der SDI-Idee, Raketen durch Laser abzufangen - das Konzept funktioniert bis heute nicht. Abb.: Wikipedia/ US Gov.

Durch „Topas“ und andere Quellen habe der ostdeutsche Auslandsgeheimdienst dem KGB aber schließlich Dokumente und Informationen präsentieren können, die belegten, dass kein Atomschlag drohe und Reagans SDI-Programm – jenseits aller präsidialer Rhetorik – auf absehbare Zeit technologisch nicht funktionieren werde.

Auch Raum Dresden gehörte zu Atomschlagzielen

In welchem Maße Rupp und seine Ex-Kollegen hier dramatisieren und auf den Putz hauen, ist mangels weiterer Quellen schwer abzuschätzen. Dass freilich HV-A-Chef Markus Wolf (bis 1979 „Der Mann ohne Gesicht“) und seine Spione und Spioninnen wichtige Schaltstellen in der Bundesrepublik Deutschland und in der NATO massiv durchdrungen hatten, kann als gesichert angesehen werden. Nur an die geheime NATO-Zielliste für Atomschläge kam die Stasi nie heran, nur an Auszüge. Denen ist übrigens zu entnehmen, dass auch ein Ort an der Peripherie von Dresden zu den Raketenzielen gehörte – mutmaßlich die sowjetische SS-20-Stellung im Massenei-Wald.

Begonnen hatte der Aufstieg der HV-A zu einem der weltweit erfolgreichsten Geheimdienste 1951 mit dem „Außenpolitischen Nachrichtendienst“, der unter dem Deckmantel des angeblichen „Institut für wirtschaftswissenschaftliche Forschung“ zunächst von Anton Ackermann geleitet wurde. Kurz bevor dieser in Ungnade fiel, übernahm Wolf die Leitung des Dienstes, der ab 1956 intern als HV A firmierte. Dessen Abteilungen IV (Bundeswehr), XI (USA) und XII (NATO) waren für die Militärspionage zuständig und konnten – nach zunächst ziemlich mäßigen Ergebnissen – ab den 60er und 70er Jahren Informanten in wichtigen Schlüsselpositionen im Westen installieren.

Agenten durch Unfälle und Ungeschick aufgeflogen

Der Einsatzort von "Topas": Das NATO-Hauptquartier in Brüssel. Abb.: NATO

Der Einsatzort von "Topas": Das NATO-Hauptquartier in Brüssel. Abb.: NATO

Dabei blieben aber auch üble Patzer nicht aus: Mit dem IM „Henry“ hatten die Ostberliner Schlapphüte beispielsweise einen Frauenheld in Koblenz angeworben, der über seine Liebschaften wertvolle Rüstungsgeheimnisse besorgte. Dabei gab sich „Henry“ gern als französischer Geheimagent aus . Dumm nur: Der Gigolo verunglückte bei Glatteis mit seinem Auto, die Verkehrspolizei entdeckte im Unfallwagen „Henrys“ gesamte Spionageausrüstung und der ganze „Kundschafterring“ flog auf.

Ähnliches Ungeschick enttarnte die Quelle „Zange“: Der Postbote im Bundesinnenministerium kopierte der HV-A jahrelang brisante Unterlagen – und verriet sich selbst, als er eines Tages im Paternoster des Ministeriums sein Taschentuch herauszog und dabei seine Spionagekamera auf den Boden fiel. Zu dumm auch…

Wer indes durchweg solch unterhaltsame Räuberpistolen erwartet, wird das Buch wohl bald enttäuscht zur Seite legen. Der 288-seitige Band ist eben doch eher eine Aufsatzsammlung als eine stringente – oder gar wissenschaftlich-objektive – Aufarbeitung der ostdeutschen Militärspionage und streckenweise auch recht schwere Kost. da wechseln sich Agenten-Storys mit langatmigen Selbstverteidigungen der Stasi-Leute ab, Auflistungen „beschaffter“ NATO-Informationen mit Eigenlobhudeleien. Wer Durchhaltevermögen beweist, wird „Militärspionage“ sicher in vielerlei Hinsicht als informativ empfinden – als unterhaltsam oder in allen Punkten zuverlässig wohl kaum.

„Haben Krieg verhindert“

Abb.: Edition Ost

Aber um noch einmal auf die Ausgangsthese von „Topas“ zurückzukommen: Wenn er da argumentiert: „Wir haben Kriege verhindert und nicht versucht, Informationen für einen Angriffskrieg zu bekommen“, dann mag das erst mal nur apologetisch klingen. Denkt man aber länger darüber nach, ist das Argument gar nicht von der Hand zu weisen: Wer die Absichten und die Kraft des Gegners kennt, fängt zumindest nicht aus einem Missverständnis heraus Kriege an. Das gilt freilich nur, wenn keine Seite einen Krieg wirklich wollte – wovon ich persönlich aber bei NATO wie Warschauer Vertrag ausgehe. Heiko Weckbrodt

Rainer Rupp u. a.: Militärspionage: Die DDR-Aufklärung in NATO und Bundeswehr, Edition Ost, Berlin 2011, 15 Euro, ISBN 978-3360018281

 

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt

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