Bücherkiste, Geschichte, News
Schreibe einen Kommentar

Das dezimale Byzanz und die Null

Um 1493 entstand dieser Holzschnitt der für die Europäer märchenhaft reichen Stadt Knonstantinopel alias Byzanz (Auszug aus der Schedelschen Weltchronik). Repro: Wikipedia, gemeinfrei

Um 1493 entstand dieser Holzschnitt der für die Europäer märchenhaft reichen Stadt Knonstantinopel alias Byzanz (Auszug aus der Schedelschen Weltchronik). Repro: Wikipedia, gemeinfrei

Dresdner TU-Professor Deschauer hat eine der wichtigsten Mathematik-Handschriften aus der Zeit kurz vor dem Fall Konstantinopels übersetzt und publiziert

Die Metropole am Bosporus, die wir heute als Istanbul kennen, galt seit jeher als Scharnier zwischen Ost und West, als Wissensvermittler zwischen Antike und Neuzeit: Vor etwa 2660 Jahren von hellenischen Kolonisten gegründet, wurde sie im 4. Jahrhundert als „Konstantinopel“ zur Hauptstadt des oströmischen Reiches. Während Europa in der „Dunklen Zeit“ die Antike vergaß, bewahrten byzantinische Mönche und Gelehrte das Wissen der Alten über die Jahrhunderte hinweg, saugten neue Erkenntnisse von Indern, Persern und Arabern auf – und trugen diesen ideellen Schatz nach dem Fall der Stadt unter dem Ansturm der Osmanen im Jahr 1453 nach Europa weiter. Der Dresdner Professor Stefan Deschauer vom TU-Lehrstuhl für Didaktik der Mathematik hat nun eine der wichtigsten spätbyzantinischen Mathematik-Handschriften, die kurz vor dem Fall Konstantinopels entstand, transkribiert, übersetzt und als kommentierte Ausgabe „Die Große Arithmetik“ veröffentlicht. Deschauers Arbeit dauerte Jahrzehnte, begonnen hatte er sie in den 1980ern noch mit einem Atari-Heimcomputer.

Ein Auszug aus der Handschrift. Repro: hw

Ein Auszug aus der Handschrift. Repro: hw

Unbekannter Autor brachte Dezimalbrüche ins untergehende Ostrom

„Angenommen Du suchst danach, wieviel ς’ mal ιε’ ergibt… Setze oben die ιε’, seitlich aber ς’, denn so muss man es bei der vorliegenden Methode machen, dass nach oben das Größere, seitlich aber das Kleinere gesetzt wird. Multipliziere aber die ς’ auf der Seite mit ε’ oben…“ – der unbekannte Autor hat sich in seiner Handschrift viel Mühe gegeben, um auch Laien alles ganz einfach und langsam zu erklären: Wie man mit dem damals neumodischen Zahlensystem mit der indischen „Nichts“-Zahl Null und den neuen Dezimalbrüchen aus Samarkand multipliziert, dividiert und so weiter. Manchmal geht er dabei arg umständlich zu Werke. Aber Kenner Deschauer meint: Für seine Zeit habe der Autor über „beachtliches didaktisches Talent“ verfügt, richtete sich sein Buch doch an Praktiker wie Gelehrte.

 

Professor Stefan Deschauer. Foto: Heiko Weckbrodt

Professor Stefan Deschauer. Foto: Heiko Weckbrodt

Prof. Deschauer: „In den letzten Jahrzehnten vor dem Fall der Stadt haben die Gelehrten dort aber enorm viel mathematische Erkenntnisse aus den benachbarten Kulturkreisen gesammelt, es kam zu einer Renaissance der Wissenschaften“

Zum Weiterlesen: Interview „Mit dem Atari ins Alte Byzanz“

 

 

 

Rechnen mit griechischen Ziffern

Immerhin waren das Konzept der Null und des Dezimalsystems, wie wir es heute verwenden, für die Byzantiner ein Novum: Sie waren das – griechisch umgemünzte – römische Zahlensystem gewöhnt. Deshalb auch verwendet der Autor nicht die uns bekannten „arabischen“ Ziffern, sondern – um seinen Lesern entgegenzukommen –die eingeführten griechischen Buchstabenziffern bis zur Neun, um das neue Dezimalsystem zu erklären.

Kaiserlicher Botschafter kaufte Handschrift vom Sultanshof

Das Werk ist laut Deschauer ein Unikat und – wie einer der Sachaufgaben darin zu entnehmen ist –größtenteils um das Jahr 1436 herum entstanden. Im 16. Jahrhundert kaufte Botschafter Augerius von Busbeck die 163-seitige Handschrift für Kaiser Ferdinand I. am Hof von Sultan Suleiman dem Prächtigen. Heute ist das Original in der Österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrt.

Aufschlüsse für Mathehistoriker und Alltagsforschung

Abb.: Verlag der österr. AdW

Abb.: Verlag der österr. AdW

Wertvoll ist die Ausgabe einerseits für Wissenschaftshistoriker und Byzantinisten, aber auch für Numismatiker, zeigt die übersetzte Handschrift doch viele Münz-, Maß- und andere Einheiten des alten Konstantinopels, die Deschauer in einem Anhang noch einmal aufschlüsselt. Das Werk bietet aber auch interessierten Laien einigen Stoff, insbesondere durch die Sachaufgaben, die ein Stück Wirtschafts- und Alltagswelt des späten oströmischen Reiches spiegeln. Autor: Heiko Weckbrodt

Stefan Deschauer: „Die große Arithmetik aus dem Codex Vind. phil. gr. 65“, Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 2014, ISBN13: 978-3-7001-7533-9, ca. 90 Euro

Zum Weiterlesen:

Interview „Mit dem Atari ins alte Byzanz“

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt

Schreibe einen Kommentar