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Heute überleben sogar Halbkilo-Babys

Frühgeborene Babys bedürfen besonderen Schutzes. Foto: Jeremy Kemp, Wikipedia, Lizenz: gemeinfrei

Frühgeborene Babys bedürfen besonderen Schutzes. Foto: Jeremy Kemp, Wikipedia, Lizenz: gemeinfrei

Dresdner Neonatologe Prof. Mario Rüdiger im Interview über die verbesserten Chancen von Frühchen

Dresden, 17. November 2014: Auf der Intensivstation für Frühgeborene am Uniklinikum Dresden wird sichtbar, was unvorstellbar ist: Kleinstes Leben, groß wie eine Hand, 500 Gramm, winzig und doch atmend. Viele Frühchen sind Hochrisiko-Patienten. Herz und Lunge sind noch nicht voll entwickelt und das Gehirn anfällig für kleinste Erschütterungen. Oiger-Autorin Hannah Dembinski hat zum Welt-Frühchen-Tag mit Professor Mario Rüdiger, dem Leiter der Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin, gesprochen.

Professor Rüdiger, welche Rolle spielen Frühgeborene heute? Ist deren Überleben im 21. Jahrhundert überhaupt noch ein Thema?

Jedes zehnte Kind kommt zu früh zur Welt. Auch wenn das Risiko der Sterblichkeit minimiert ist, sind die langfristigen Folgen problematisch. Viele Entwicklungen sind nicht abzusehen. Kinder sind unsere Zukunft, vor möglichen Problemen sollten man nicht die Augen verschließen. Deswegen organisieren wir gerade mit der AOK und hoffentlich auch weiteren Krankenkassen eine langfristige Nachsorge.

Kinder brauchen mindestens 24 Wochen im Bauch der Mutter

Wie schwer muss ein Mensch sein? Ab wann sind Kinder überlebensfähig?

Das Gewicht ist nicht das Entscheidende. Viel wichtiger ist die Woche, in der die Kinder geboren werden. Kinder sind überlebensfähig, wenn sie mindestens 24 Wochen im Bauch der Mutter heranwachsen konnten. Ausschlaggebend ist die Ausprägung der Organe der Frühchen. Mir ist ein Kind mit 500 Gramm in der 26. Woche lieber als ein Kind mit 700 Gramm in der 24. Schwangerschaftswoche.

Worauf kommt es bei der medizinischen Versorgung genau an? Wo liegen die Gefahren?

Alle Organe der Frühgeborenen sind funktionsfähig, jedoch noch so extrem unreif, dass die Medizin sie unterstützen muss. Die Lunge beispielsweise ist fähig Sauerstoff in das Blut zu transportieren, kann aber in ihrem unreifen Stadium leicht in sich zusammenfallen. Deswegen brauchen Frühgeborene eigentlich immer Atem-Unterstützung. Gehirn und Darm funktionieren, sind aber ebenfalls sehr empfindlich. Ähnlich wie im Auge bei Anstrengung kleine Gefäße platzen können, ist dies im Gehirn der Frühchen möglich. Diese Gehirnblutungen können schnell lebensgefährlich sein.

 

Prof. Mario Rüdiger. Foto: privat

Prof. Mario Rüdiger. Foto: privat

 

 

„Noch in den 80er Jahren haben es Babys unter 1000 Gramm so gut wie nie geschafft. Heute überleben neun von zehn Kindern.“

 

Wie hoch sind die Überlebenschancen?

Mit jeder Woche, in der die Kinder länger im Bauch der Mutter bleiben, steigt die Überlebenschance. Bei Geburten nach 24 Schwangerschaftswochen überlebt etwa die Hälfte aller Kinder, ab der 29. Schwangerschaftswoche eigentlich jedes Kind. Das war nicht immer so. Noch in den 80er Jahren haben es Babys unter 1000 Gramm so gut wie nie geschafft. Heute überleben neun von zehn Kindern, früher sind neun von zehn Kindern gestorben. Mittlerweile können sogar extrem frühgeborene Babys mit 500 Gramm groß gezogen werden. Die Frage ist nicht nur, ob die Kinder überleben, sondern auch wie sie überleben.

Haben Frühgeborene die Chance auf einer normale Entwicklung?

Auch diese Chance steigt mit jeder Schwangerschaftswoche. Frühgeburten bergen immer ein erhöhtes Risiko für die Langzeitentwicklung. Viele Frühchen holen die meisten Nachteile ihrer frühen Geburt wieder auf. Doch vor allem für die Entwicklung des Gehirns hat der verfrühte Start ins Leben oft nachhaltige Folgen. Studien haben gezeigt, dass viele Frühgeborene selbst zur Schuleinführung noch Probleme haben, ähnlich schwere Aufgaben zu lösen, wie ihre Altersgenossen.

Aktive Förderung durch Eltern sehr wichtig

Wie viel Einfluss können die Eltern nehmen?

Sehr viel. Gerade für die langfristige Entwicklung der Kinder sind Eltern extrem wichtig. Oft haben Mütter und Väter von Frühgeborenen das Gefühl, sie müssten ihr Kind schützen. Dabei ist gerade die aktive und langfristige Förderung sehr wichtig. Das beginnt sofort nach der Geburt. Wenn Kinder zu früh kommen, ist die Kontaktaufnahme deutlich beeinträchtigt. Frühgeborene senden andere Signale aus, als reif geborene Babys. Diese müssen Eltern erst entschlüsseln lernen. Die verschiedenen Kontaktpersonen im Krankenhaus mit ihren individuellen Reaktionen, erschweren den Babys zudem zu lernen. Umso wichtiger ist es für sie, dass ihre Eltern da sind. Mütter und Väter sollten so oft wie möglich im Krankenhaus sein, um adäquat auf ihr Babys zu reagieren, ihnen Zuneigung, Wärme und Bindung zu geben. Das ist viel entscheidender für die Langzeitentwicklung als die Medizin. Die Medizin sorgt fürs Überleben, die Liebe und Förderung der Eltern dafür, wie sich die Kinder entwickeln.

Warum kommt es überhaupt zu Frühgeburten? Was sind die Risikofaktoren?

Bei manchen Müttern gibt es eine gewisse Veranlagung. Mütterliche Erkrankungen wie Schwangerschaftsvergiftungen und Infektionen spielen außerdem eine gravierende Rolle. Doch auch das immer höhere Alter der Mütter, künstliche Befruchtungen und Mehrlingsgeburten erhöhen das Risiko.

Was raten sie betroffenen Eltern?

Mütter und Väter brauchen keine Angst haben. Sie sollen sich über ihr Kind freuen und sich auf dessen Besonderheiten einlassen.

Interview: Hannah Dembinski
 

-> Mehr Infos über die Früchen-Forschung in Dresden gibt es hier im Netz

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt

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