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Frühchen: Eine Handvoll Leben

Im April 2012 mit nur 780 Gramm geboren: Der kleine Charlie musste wochenlang im Krankenhaus betreut werden. Foto. privat

Im April 2012 mit nur 780 Gramm geboren: Der kleine Charlie musste wochenlang im Krankenhaus betreut werden. Foto. privat

Charlie wurde mit 780 Gramm geboren

Dresden, 17. November 2014. Die Stimme der Mailbox bringt den Schrecken zurück. „Es gibt Komplikationen“, schallt es aus der Hörmuschel. „Bitte melden Sie sich.“ Isabell Nutsch wird diesen Tag ihres Lebens nie vergessen. Es war der Geburtstag ihres Vaters, sie sollten fahren, hatte die Krankenschwester noch gemeint. Abschalten und Kraft tanken. Bis zu diesem Moment. Voller Angst sind sie nächsten Morgen auf ihrer Vespa über die Landstraßen nach Dresden geeilt, der Fuß am Gas, die Finger verkrampft, das Herz im Keller. Auf die Station geeilt, die Tür aufgeschoben und auf das Bett gesehen: Dort lag er. Und atmete. Und lebte.

Du musst leben, kleines Alien…

Nach einem Jahr war Charlie bereits ein ganz fideler Junge. Foto: privat

Nach einem Jahr war Charlie bereits ein ganz fideler Junge. Foto: privat

Charlie Nutsch ist am 5. April 2012 mit einem Gewicht von 780 Gramm und einer Größe von 31 Zentimetern auf die Welt gekommen. Drei Monate vor dem regulärem Geburtstermin waren seine Organe längst nicht ausgereift. Trotzdem mussten die Ärzte ihn holen, sonst hätten sie Leben von Mutter und Kind riskiert. Nach der Geburt sah er aus wie ein Alien, ob er überleben würde, war nicht klar. „Ich hatte Angst, mich an ihn zu gewöhnen“, erinnert sich Isabell. „Doch am dritten Tag hat sich der Mutti-Schalter umgestellt. Da war mir klar: ‚Charlie, Du musst leben!‘“

50 % Überlebens-Chance

Charlie Nutsch gehört zu den etwa 5700 Frühgeborenen in Sachsen und zu 60.000 Frühchen in Deutschland. Als Frühgeborene gelten alle Babys, die drei Wochen vor dem errechneten Termin zur Welt kommen. Sind die Kinder in oder vor der 28. Schwangerschaftswoche geboren, sprechen Ärzte von Extremfrühchen. Ihre Überlebenschance liegt bei 50 Prozent. Das ist viel. Vor 20 Jahren hätte es keine Chance gegeben.

Eltern bangten monatelang

Charlie ist solch‘ ein Extremfrühchen. Wie über 2200 andere sächsische Frühgeborene auch, muss er die ersten Wochen und Monate im Krankenhaus verbringen, und: um sein Leben ringen. Damals schon – im OP-Saal des Dresdner Uni-Kinderklinik – hat Charlie einfach nicht angefangen zu atmen. Eine Intubation rettete sein Leben in seiner 10. Lebensminute. Wochenlang lag er danach im Brutkasten, auf der Schwelle zum Leben. Schon oft hatte der Tod geklopft. Die Lungen funktionierten nicht nichtig, genauso wie der Darm, Charlie litt unter Blutarmut und Koordinationsstörungen. „An der Summe der blinkenden Versorgungskästen sieht man, wie krank die Babys sind“, erklärt Isabell das Maschinengewirr auf der Intensivstation für Neugeborene. „Charlie hat damals fast alle Kästen gebraucht, die es gab“

Wenn das Piepen am Kasten aufhört…

Nie wird die 31-Jährige diese Angst vergessen, nie die Erleichterung, wenn wieder ein Kasten abmontiert wurde. Jedoch auch nie diesen Schrecken als sie mit ihrem Mann an eben jenem Morgen nach dem Geburtstag auf der Station eintraf. „Die Kinder schienen sich gegenseitig anzustecken“, erinnert sich Isabell. Piepte ein Überwachungsgerät, folgte bald das nächste. Charlie atmete. Doch das Kind daneben, das Kind daneben lag nicht mehr da. „Wir kannten die Eltern von der Frühchen Sprechstunde“, sagt Isabell. „Wir haben sie nie wieder gesehen.“ Charlie hat Glück gehabt, das Baby daneben nicht.

Schwangerschafts-Vergiftung, Kaiserschnitt, keine Wohnung mehr

Die Geschichte der Familie Nutzsch ist mehr als eine Geschichte. Sie ist ein Beispiel dafür, wie hart das Schicksal von allen Seiten zuschlagen kann. Isabell und Matthias Nutzsch hatten schon alles geplant. Sie wollten nach der Geburt Charlies nach Schanghai, der Arbeitsvertrag war unterschrieben, die Wohnung in Dresden gekündigt. Dann kam die Schwangerschaftsvergiftung, das Hellp-Syndrom (eine schwerwiegende Leberfunktionsstörung), der Kaiserschnitt und die elende Qual. „Dreieinhalb Monate habe ich täglich sieben Stunden am Brutkasten gesessen“, erinnert sich Isabell. Die Angst im Rücken, der Tod auf der Schwelle. Keine Wohnung mehr und keine Arbeit, hinzu kamen familiäre Rückschläge. Wie viel kann ein Mensch ertragen.

Heute ist Charlie zweieinhalb und gesund. Foto. privat

Heute ist Charlie zweieinhalb und gesund – der lebendige Beweis, dass auch Frühgeborene inzwischen gute Chancen haben. Foto. privat

„Auf keinen Fall aufgeben!“

Heute ist Charlie über zweieinhalb Jahre. Er lacht und albert. „Es ist ein Wunder“, sagt Isabell. „Neben kleineren Beeinträchtigungen ist unser Sohn gesund.“ Andere Frühgeborene sind unter diesen Bedingungen mehrfach schwerstbehindert. Um Frühgeborenen zu helfen, hat Matthias Nutzsch jetzt eine Montessori-Tagesgruppe gegründet. Das Ehepaar will anderen Eltern Mut machen. „Immer da sein, das merken die Kinder“, appellieren sie. „Und: Auf keinen Fall aufgeben!“ Autor: Hannah Dembinski

Zum Weiterlesen:

Dresdner Neonatologe über die Chancen von Frühchen heute

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt

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