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„Situation Room“ macht uns zum Hochrüster und Waffenopfer

Der Besucher erlebt auch die Schießbahn in "Situation Room" aus verschiedenen Perspektiven: Als Sportschütze, als Soldaten im Feldeinsatz, als Beobachter, der in die Schussbahn gerät... Foto: Rimini Protokoll

Der Besucher erlebt auch die Schießbahn in „Situation Room“ aus verschiedenen Perspektiven: Als Sportschütze, als Soldaten im Feldeinsatz, als Beobachter, der in die Schussbahn gerät… Foto: Rimini Protokoll

Im Videolabyrinth im Militärmuseum Dresden werden Zuschauer zu iPad-gesteuerten Kindersoldaten, Waffenlobbyisten, Feldchirurgen

Dresden, 12. März 2015: Im einen Moment sind wir Kindersoldat und posieren in Afrika stolz mit unserem Sturmgewehr. Wenige Minuten später versuchen wir als Rüstungshändler mit den Scheichs ins Geschäft zu kommen. Augenblicke später flicken wir als Chirurg in einem Feldlazarett die Wunden zusammen, die wir als Kindersoldat einem Zivilisten gerissen haben… All diese Masken, diese zehn geborgten Identitäten im Spannungsfeld von Rüstung, Waffenexporten und Krieg, setzt der Besucher in dem „technoid-empathischen“ Mitmachstück „Situation Room“ auf, das ab heute zwei Wochen lang in einem Containerlabyrinth im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr in Dresden aufgeführt wird.

Video 1 (hw):

20 Mitmach-Zuschauer kriechen, verhandeln, flüchten und rennen mit Tablet und Kopfhörer durch eine Welt-Containerburg

Das Besondere daran sind die eingesetzten interaktiven Elemente einer „erweiterten Realität“ („Augmented Reality“-Konzept): Jeweils 20 Zuschauern werden zu Mitmachern, zu Tätern und Opfern, setzen sich Kopfhöhrer auf und schnappen sich Mini-iPads, von denen sie durch das Labyrinth geführt werden und dabei in wechselnden Rollen interagieren. In einem Moment stehen wir beispielsweise als Söldner in einer afrikanischen Hütte, geben einem anderen Mitmach-Zuschauer die Hand, der den Part eines Rüstungskontroll-Journalisten übernommen hat. Auf Geheiß des großen Bruders im iPad hissen wir die kongolesische Flagge, werfen uns zu Boden, als der Feind angreift. Robben in einen Konferenzraum, in dem wir als aalglatte Manager einen Rüstungsexport einfädeln. Löffeln als Schweizer Waffen-Prüzisionsarbeiter die Suppe aus, die wir uns eingebrockt haben. Legen uns als Friedensaktivist mit einer Sturmgewehr-Fabrik an. Entscheiden als 19-jähriger Patrouillenführer im israelischen Grenzraum über Leben und Tod unserer Kameraden. Steuern die Drohne, die einen als Taliban-Auflauf missverstandenen Ältestenrat in Pakistan zusammenschießt…

Video 2 (Rimini-Protokoll):

 

Erweiterte Realität und Gegenwart verschwimmen

Neben dem ständigen Perspektivwechsel, der eher Fragen aufwirft als vorgefertigte Antworten serviert, fasziniert dieses interaktive Theaterstück vor allem durch die Kunst, Realitätsebenen vor unseren Augen verschwimmen zu lassen: So sehr konzentriert sich der mitmachende Zuschauer darauf, sich von Stimme im Ohr und Videosequenzen auf dem iPad leiten zu lassen, dass er oder sie irgendwann beginnt, den anderen Zuschauer, der da eben durch eine versteckte Tür kriecht, wirklich als Waffennarren, Rüstungskontrolleur oder Opfer zu akzeptieren. Skript-gesteuerte virtuelle Realität und Gegenwart verschwimmen dabei mit jeder Minute mehr und mehr. Und vom dramaturgisch-technischen Standpunkt aus ziehen wir hinterher den – weisungsgemäß aufgesetzten – Hut vor der Künstlertruppe „Rimini Protokoll“, die es durch präzise Planung schafft, all diese Menschen, die von 20 verschiedenen Startpunkten das Labyrinth betreten haben, wirklich miteinander interagieren zu lassen, so dass ein echter Handlungsablauf entsteht.

Bildergalerie:

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Jeder Besucher knüpft lose Enden für sich zusammen

Daniel Wetzel gehört zu den Autoren von "Situation Room". Foto: Heiko Weckbrodt

Daniel Wetzel. Foto: hw

„Bei unseren Recherchen im Umfeld von Rüstungsindustrie und -lobby haben wir bald gemerkt, dass man heute zum Beispiel von einer deutschen Waffenindustrie gar nicht sprechen kann“, betonte Daniel Wetzel von „Rimini Protokoll“ heute bei einer ersten Voraufführung. Die Geflechte aus Waffenexporten und deren Folgen seien vielmehr ein länderübergreifendes, ein „europäisches, ja internationales Waffenspiel.“ Um „Situation Room“ vorzubereiten, hatten die Künstler zahlreiche Akteure aus der Szene interviewt und zehn von ihnen dazu überredet, bei den Dreharbeiten für die Videos mitzumachen. Herausgekommen ist keine durchkomponierte Analyse der Waffenströme, die sich von Deutschland durch die Welt ziehen, sondern vielmehr ein Konglomerat aus vielen „losen Enden“, die jeder Besucher für sich selbst zusammenknüpfen kann, so Daniel Wetzel.

Interaktiv-hochtechnisiertes Theater eröffnet empathischen Zugang zum Thema Waffenexport

Staatsschauspiel-Intendant Wilfried Schulz. Foto: Heiko Weckbrodt

Staatsschauspiel-Intendant Wilfried Schulz. Foto: Heiko Weckbrodt

Ausgangspunkt von „Situation Room“ war für die Macher jenes vielpublizierte Foto, auf dem US-Präsident Barack Obama (Demokraten) und sein Stab im Mai 2011 die staatlich angeordnete Tötung des Terroristen Osama bin Laden aus sicherer Distanz, vom Langezentrum (Situation Room) des Weißen Hauses aus verfolgen – es zeigte ein Töten, das klinisch erscheint, videospielartig, distanziert. Diese Distanz zu demontieren, die tödlichen Folgen der Entscheidungen von Politikern und Managern hautnah zu verdeutlichen, ist eines der zentralen Anliegen von „Situation Room.“ „Dieses Projekt verschafft uns mit hochtechnoiden Instrumenten einen empathischen Zugang zum Thema“, schätzte Wilfried Schulz, der Intendant des Staatsschauspiels Dresden, das dieses Gastspiel gemeinsam mit dem Museum organisiert hat.

Fazit: Ein ungewöhnliches, beeindruckendes Stück, dass es mit präziser dramaturgischer Kontrolle und den technologischen Insignien unserer Zeit versteht, die Folgen von Rüstungsexport und Waffennarretei für jeden erlebmar zu machen. Endlich einmal ein wirklich überzeugender Einsatz von „Augmented Reality“. Autor: Heiko Weckbrodt

Situation Rooms“, interaktiv-multimediales Theaterstück für jeweils 20 Besucher von „Rimini Protokoll“ (Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel), ab heute bis zum 29. März 2015 im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr in Dresden, Olbrichtplatz 1, Termine und Karten-Infos hier im Internet

Repro: Oiger, Original: Madeleine Arndt